Geschichten irgendeiner Quarantäne-Trulla
Anfang 2020
Ich liege im Bett. Wie immer, wenn man mich lässt. Heute war ich bereits spazieren, so nenne ich das zumindest, wobei ich eher in Nachbars Garten herumsaß. Für griechischen Bauernsalat habe ich noch alle Zutaten im Haus. Ich muss mich also lediglich aus dem Bett bequemen um auf meinem Fußboden Platz zu nehmen und dort das ganze Gemüse klein zu schneiden.
Aus verschiedenen Gründen ist mir diese Variante deutlich lieber als die Zubereitung in unserer WG-Küche zu erledigen: Erstens muss ich niemandem begegnen, zweitens ist auf dem Fußboden zu sitzen immer noch bequemer als an der Arbeitsplatte zu stehen und drittens kann ich währenddessen prächtig weiter Netflix suchten. Ich binge watche Bojack Horseman, weil ich mich mit ihm identifizieren kann. Aus demselben Grund bin ich, verstärkt durch die aktuelle Situation, wieder rückfallgefährdet. Was könnte man momentan besser tun als sich zu besaufen? Und so lange ohne Verpflichtungen in meinem Bett zu wohnen, habe ich zuletzt auch nur stoned prächtig geschafft. Aber ich bleibe stark und ziehe mich an der Vorstellung hoch, besser zu sein als alle anderen, weil ich mit einem Problem umgehe, das sie so nicht haben.
Ich bilde mir auch viel darauf ein, täglich zumindest ein paar elektronische Nachrichten zu beantworten und mit irgendwelchen Leuten zu skypen. Ich hasse das. Zwar liebe ich meine Freunde und Familie über alles, doch Bildschirmaktivitäten, die mit Kommunikation zusammenhängen, ganz und gar nicht.
Der Salat ist fertig und ich auch. Stopfe ihn mir halb sitzend, halb liegend in den Mund, öffne das Fenster um eine zu rauchen – nach wie vor in meinem Bett. Keine Ahnung, ob diese neue Angewohnheit mir hilft, nicht stattdessen zu kiffen oder mich vielmehr an jene Zeiten erinnert – Hauptsache, ich muss nicht aufstehen. Dann gucke ich weiter Netflix, abwechselnd rauchend und Salat essend. Um etwa vier Uhr morgens habe ich alle Geräte ausgeschaltet und wälze mich auf meiner durchgelegenen Matratze hin und her. Morgen Mittag wird mich der Nikotinmangel wecken oder das dumpfe Gefühl, irgendwann aus irgendeinem Grund aufstehen zu müssen. Es ist ein gutes Leben. Wenn es noch lange so weiter geht, bringe ich mich wohl um.
Auf dem Weg zum Einkaufen habe ich ein beklemmendes Gefühl. Die wenigen Menschen, die mir entgegenkommen, sehen mich mit einem halb schuldbewussten, halb ängstlichen Blick an, der so aussieht, als müssten wir auf der Hut sein. Als wäre es verboten, sich nach draußen zu wagen und als drohten die schlimmsten Konsequenzen, sollte man uns erwischen. Alles in mir schreit, dass ich sofort nach Griechenland muss. Es fühlt sich an, als sei die Endzeit plötzlich hereingebrochen und ich befände mich am absolut falschen Ort. Doch ich kann nichts daran ändern, ich hänge fest und haste geduckt durch mein Viertel. Bei jedem vorbeifahrenden Auto, das die unheimliche Stille zerreißt, schrecke ich auf.
Frühling 2020
In meiner WG scheiden sich die Geister in Bezug darauf, wie wir mit der Situation umgehen wollen. Zur Deeskalation und Bewahrung der eigenen Freiheit, fahren S. und ich zu seinen Eltern. Meinen Bruder nehmen wir mit – für die Dauer der Osterferien.
Es werden vier Wochen daraus. Anfangs sind wir viel draußen, diskutieren und entspannen im kleinen Kreis der Anwohner, halten Abstand doch Kontakt. Wir sehen jeden Abend einen Film oder spielen ein Brettspiel. Die Tage tröpfeln dahin.
Dann wird das Wetter schlechter und mein Verhältnis zu S. auch. Mein Bruder und ich laufen stundenlang durch die Landschaft, um uns mit Snacks einzudecken. Draußen ändern sich die Regeln und für die zehn Minuten im Supermarkt tragen wir Masken. Wir liegen viel im Bett und haben in wenigen Tagen „Breaking Bad“ von Anfang bis Ende gesehen. In all der Zeit schreibe ich Gedichte und halte kaum Kontakt zu Menschen, denen ich nicht täglich begegne. Ich beschäftige mich mit meiner Weiblichkeit und meiner Abstinenz. Fahre für ein Interview mit Max Fluder nach München und hoffe, dadurch endlich etwas in Bezug auf Alkoholsucht bewegen zu können.
Mit S.' Familie stößt meine auf konfliktvermeidende Art und Weise zusammen. Wir verstehen einander nicht, wollen jedoch den Frieden wahren. Nach diesen vier Wochen bin ich absolut ausgelaugt und sehne mich nach einem Moment ganz für mich alleine. Das kommunenartige Leben hat mir gut getan und gezeigt, dass ich ein physisch anwesendes soziales Umfeld brauche, um weder den Verstand zu verlieren noch traurig zu sein. Es hat mir jedoch auch gezeigt, dass ich mich hin und wieder zurückziehen muss und dem Zusammenleben mit „Fremden“ ohne große Anstrengung nicht gewachsen bin. Ich brauche Momente und Orte, an denen ich meine Maske fallen lassen, emotional und egoistisch sein kann. Kurz über mich selbst nachdenken – ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer.
Herbst 2020
In Deutschland werde Veranstaltungen abgesagt und in Griechenland ein erneuter, strenger Lockdown gestartet. Ich bin dankbar dafür, keine Teilnahme an Veranstaltungen geplant und es rechtzeitig aus dem Land geschafft zu haben. Das Familienleben ist idyllisch (siehe „Alltägliches – Landleben“), doch meine Beziehung leidet unter der Situation.
Zwei Monate mussten wir bereits getrennt von einander verbringen und fieberten meiner Ankunft in Griechenland geduldig entgegen. Nun sind wir einander zum Greifen nahe und doch unerreichbar von einander entfernt. Denn ohne triftigen Grund darf niemand zu keiner Zeit das Haus verlassen – geschweige denn quer durchs Land reisen. Die folgenden vierzig Tage verbringen wir größtenteils zweifelnd, streitend und weinend, können die Belastung nicht ertragen. Mein Freund kündigt seinen Job und zieht offiziell auf meine Insel, um bei mir sein zu können. Der Lockdown hält weiterhin an.
Frühling 2021
Seit Anfang November, also seit über fünf Monaten, befinden wir uns durchgehend im Lockdown. Das eigene Grundstück darf aus fünf verschiedenen Gründen verlassen werden, welche man in einer SMS an die Regierung anzugeben und bei einer Kontrolle vorzuweisen hat. Auch die nächtliche, komplette Ausgangssperre gilt von Anfang an. Selbst unter freiem Himmel müssen Masken getragen werden.
Mein Freund und ich wohnen in einem winzigen Bergdorf, besuchen unsere Familie so oft wir können und sehen das Meer von unserem Fenster aus, waren jedoch bisher kein einziges Mal am Strand. Er hat Arbeit gefunden und ich widme mich dem Haushalt. Gehe darüber hinaus häufig spazieren, meine Maske – für den unwahrscheinlichen Fall, dass mir die Polizei begegnet – immer in der Tasche. Seit einem halben Jahr habe ich den deutschen Teil meiner Familie und meine Freund:innen nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Nachrichten entsage ich und somit einem Großteil potentieller Sorgen. Die Zeit vergeht wie im Fluge. Ich schreibe viel, ich koche, putze und denke über den Sinn des Lebens nach. Im Kreis der Familie brauche ich keine Maske – weder die tatsächliche noch die metaphorische. Wie wird es weitergehen? Kein Mensch auf dieser Welt weiß es momentan. Ich habe im letzten Jahr nur gelernt, dass ich die Gesellschaft lieber Vertrauter brauche und Zeit für mich. Dieses Land und seinen Sonnenschein. Das können mir Virus und Lockdown ebenso wenig nehmen, wie all die wirklich wichtigen Gedanken und Gefühle, die Freiheit, eigene Grenzen zu ziehen und bedingungslos zu lieben.
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