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Tourleben - Nächtliche Zugfahrt


elisabeth schwachulla gedicht tour

Vor ziemlich genau einem Jahr verbrachte ich beinahe die ganze Nacht in diversen Zügen - unterwegs von Kassel nach Bochum. So sehr mich dieses Erlebnis auch erschöpfte, inspirierte es mich doch zumindest zu dem folgenden Text.



„Nur wegen euch scheiß Hurensöhnen haben wir unsere Bahn verpasst! Wegen der scheiß deutschen Bundesbahn!“

Die Sicherheitsmänner am Ende des Zuges verhalten sich mucksmäuschenstill. Sie haben ja auch nicht mitbekommen, wie genau dieser brüllende Mann zusammen mit seinem Kumpel die Türen blockiert hatte, damit dessen Freundin noch einsteigen kann. Ich glaube fast, ich müsste ihm das Prinzip der Kausalität erklären, doch jetzt steigt er ja sowieso aus.

Von dem Lärm wird auch mein neuer Homie geweckt. Bislang schlief er in der Sitzgruppe nebenan, nachdem er die seltsamsten Sachen aus seinen Taschen gezogen, teilweise in den Mülleimer geworfen oder versucht hatte, diese an mich zu verschenken. Außerdem trank er geräuschvoll mit einem sehr dünnen Strohhalm aus seiner sehr leeren Vodka-Mischgetränk-Dose. Kein Ding, er hat noch eine Flasche undefinierbaren Alkohols dabei, die er immer wieder öffnete um an ihrem Inhalt zu riechen, woraufhin er angewidert den Kopf schüttelte und sie wieder verstaute. Nachdem er jedoch den Rest des Joints geraucht hatte, den er auf dem Klo des vorherigen Zuges gebufft haben musste – ich weiß das, denn ich musste auf die Toilette, rüttelte an der Tür und roch es – also nachdem er den Rest dieses Joints geraucht hatte, folgte ein großer Schluck aus der Flasche und ob er seinen Kopf dann deshalb in die Hände schlug oder aus einem anderen Grund, ist mir unbekannt.

Ich hatte den jungen Mann angesprochen um ihn zu fragen, ob er den hinter sein Ohr geklemmten Joint-Stummel nicht vielleicht wegwerfen sollte. Ich machte mir Sorgen um ihn. Doch er lachte nur laut und viel und bisher weiß ich nicht, ob er wirklich so unfassbar schlecht Deutsch spricht oder in erster Linie furchtbar betrunken ist. Betrunken und stoned und nun baut er sich eine neue Tüte – einfach so auf diesem kleinen S-Bahn-Mülleimer in Troistdorf. Ich fürchte, er ist nicht zu retten. Alleine und ohne Handy befindet er sich auf dem Weg nach Köln um dort zu feiern, Ankunftszeit zwanzig vor 4 Uhr morgens, Alkoholpegel dementsprechend, Aussehen...naja.

Ich mache mir keine Sorgen um seine Drogendelikte mehr, als er anfängt, merkwürdige Geräusche und Körperbewegungen zu produzieren – nicht tourettemäßig, sondern wie ein Wahnsinniger. Er zündet eine Kerze an, macht mich darauf aufmerksam und lacht laut über sich. Nachdem er mir zuvor ein paar originalverpackte hellblaue Socken mit Pinguin-Muster schenken wollte, die sich in seiner Tasche befunden hatten, und man die Kerze mit einem Deckel verschließen kann, beschleicht mich das Gefühl, er habe einen Euro-Shop überfallen. Oder dort sinnlos eingekauft. Keine Ahnung, es ist mir egal.

Es ist mir alles egal. Ich könnte mich jetzt aufregen über Leute, die nachts besoffen und auf Krawall gebürstet in der Bahn herumplärren. „Kommt her ihr mit den gelben Westen und ich fick euch! Kommt, wollt ihr boxen?“ Aber das wäre heuchlerisch. Denn wenn sich die Bahn verspätet, schimpfe ich auch direkt über den Verkehrsverbund und denke gar nicht erst an Idioten, die Türen blockieren und somit die Weiterfahrt verzögern.

Und wenn ich zurückdenke an meine schlimmsten Zeiten, dann kenne ich das Gefühl, einfach nur raus zu müssen, zu saufen und raus.

Egal ob man letztendlich feiern kann oder in der S-Bahn schläft.

Egal, ob es riskant ist, hier einen rauchen zu müssen. Scheiß auf alles, Mann, scheiß auf alles!

Wir verdrängen doch gerade unsere wirklichen Probleme.

In der Bahn sind wir endlich alle gleich heimatlos und gleich problematisch.

Potentielle Täter und Opfer in unserer gemeinsamen Welt.

Wir fahren auf diesen Schienen, wir haben keinen Einfluss darauf.

Wollen nur irgendwann irgendwie heil zuhause ankommen.

Auch wenn wir zu spät auf den Zug gesprungen sind. Besser als davor.

Besser saufen als davor zu springen, aber besser noch: Lesen.

Weder bekifft noch besoffen konnte ich das so gut. Jetzt gehe ich wieder voll darin auf.

Darin und in der Gelassenheit einer Person, die genauso gut eine von den beiden anderen hätte sein können.

Unter anderen Umständen, zu anderen Zeiten, an anderen Orten.


Vorhin ertönte ja auch noch die Durchsage: „In Kürze erreichen wir Sinn.“


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